Epigenetik
EPIGENETIK UND IHRE BEDEUTUNG IN DER MODERNEN HUNDEZUCHT
Definition: Epigenetik bedeutet im übertragenen Sinn „über die Genetik hinausgehend“ oder „jenseits der Genetik“. Epigenetik umschreibt eine stabil vererbbare Regulation von Erbgut-Aktivitäten, die nicht auf der DNA-Gensequenz beruhen, sondern darüber hinausgehen.
Mehr als reine Vererbung
Im Biologieunterricht haben wir gelernt:
1. Alle körperlichen Merkmale wie Augen- oder Haarfarbe, Größe, Statur, aber auch charakterliche und soziale Merkmale werden durch die Gene unserer Eltern vererbt, je zur Hälfte vom Vater und der Mutter.
2. Alles Biologische wird durch das Erbgut gesteuert, wir sind quasi Sklaven der Gene unserer Vorfahren.
Das ist zwar zum Teil richtig, aber halt nur zum Teil. Inzwischen gilt als erwiesen: Die Natur ist viel raffinierter, das Erbgut der meisten Lebewesen reagiert nämlich auf Umwelteinflüsse flexibler als angenommen, es entwickelt sogar eine Art Umweltgedächtnis, das an die nächste Generation weitergereicht werden kann. Diese äußeren Einflüsse prägen ab der Zeugung jede Zelle und gestalten den individuellen Lebensweg entweder positiv oder negativ mit. Mit anderen Worten: Äußere Einflüsse in Form von Haltung, gesunder oder mangelhafter Ernährung, psychischem oder physischem Stress können das Erbgut nicht nur vorübergehend sondern dauerhaft verändern, wenn es um Krankheitsanfälligkeit und Lebenserwartung geht.
Jeder halbwegs aufgeklärte Hundefreund weiß: Es gibt erhebliche Unterschiede, ob ein neugeborener Welpe bei seiner ausgeglichenen, fürsorglichen, gesunden und psychisch stabilen Mutter aufwächst, in einem liebevoll gestalteten Umfeld – oder unter erbärmlichen sozialen, gesundheitlichen und stressbelasteten Bedingungen. Äußerlich mögen sich die Welpen ähnlich sehen, auf der Ebene der Zellen sieht es anders aus, hier sind deutliche Abweichungen festzustellen. In beiden Fällen sind zwar alle genetischen Informationen in der DNA gespeichert, diese Informationen sind jedoch flexibel und können an- oder abgeschaltet werden, je nach Umweltfaktoren. Immer deutlicher erkennen Molekularbiologen, dass Gene über eine Art Intelligenz, einem Gedächtnis und über Regulationsmechanismen verfügen. Gene sind alles andere als starr, sie sind hochaktiv und schaffen ihre eigene Informationsebene und können durch entsprechende epigenetische Marker unterschiedlichste Funktionen erfüllen.
Dazu ein sehr vereinfachtes Beispiel: Man stelle sich ein Klavier mit seiner Tastatur vor. Auf der ganzen Welt sind alle wesentlichen Bauteile gleich. Die Klaviatur besteht aus 88 Tasten, Oktaven und Ausgangstonarten. Musik erklingt aber erst, wenn ein weiterer Faktor hinzukommt, nämlich ein Pianist, der seine individuelle Komposition auf dem technischen Apparat spielt. Wie wir wissen, gibt es eine unerschöpfliche Variation von Tonabfolgen, obwohl es „nur“ 7 weiße und fünf schwarze Tasten pro Oktave gibt. Je nach Klavierspieler (Umwelt) ertönt eine wüste Klimperei (Trauma, Krankheit) oder eine harmonische Melodie.
Die verschiedenen Umweltreize unserer zwei Wurfbeispiele rufen entsprechend verschiedene chemische Veränderungen am Erbgut (epigenetische Marker) hervor. Sie verändern die Aktivität der Gene ähnlich wie ein Klavierspieler die Qualität der Musik. Die Abfolge der DNA-Bausteine (Tastatur) wird dabei nicht verändert, der Bauplan für Proteine und Enzyme bleibt der Gleiche. Zu den Hauptauslösern biochemischer Veränderungen gehören: Ernährung, Toxine, Klima (Umwelt), Stress/Hormone.
Epigenetiker fanden durch Versuche mit trächtigen Labormäusen heraus, dass bei schlechter Ernährung (Geschmacksverstärker, Farbstoffe, Konservierungsstoffe) nicht nur Aussehen und Gewicht der Neugeborenen verändert war, sondern ebenfalls die biochemische Struktur ihrer Gene. Wurde der nächsten Generation der fettleibigen Agouti-Mäuse Futter mit gesunden Nahrungszusätzen (Folsäure, Vitamin B12, Betain, Cholin) verabreicht, brachten sie gesunde, normal schlanke, braune Mäusekinder zur Welt, obwohl sie von ihren Müttern das Agouti-Gen geerbt hatten. Bei einer weiteren Kontrollgruppe wurde den Mäusebabies das Kuscheln mit ihren Müttern verwehrt (frühkindlicher Stress, soziale Isolation). Genau wie bei der Ernährungsumstellung reagierten die Zellen mit sofortiger Veränderung der Transkriptionsmuster durch DNA-Methylierung und Histone-Veränderung, was wiederum den Weg zu verschiedenen Krankheiten bahnen kann. All diese veränderten Muster können bis in die dritte Generation weiter vererbt werden. Wenn die Mäuse zum Beispiel lernten, einen bestimmten Geruch zu fürchten, dann hatten auch ihre Kinder und Enkelkinder davor Angst. Änderungen im Genom wurden in keinem der Fälle beobachtet.
Welche Faktoren sind bei der Zucht und Haltung von Hunden von Bedeutung?
Von epigenetisch großer Bedeutung ist bereits die Zeit vor der Trächtigkeit, d.h. die ersten Stressoren entstehen bei der Vorbereitung des Zuchteinsatzes. Nach wie vor ist es in Züchterkreisen üblich zu einem Abstrich (Progesteron Test) in eine Klinik zu fahren. Für eine läufige Hündin kann das Stress bedeuten, auch wenn man es ihr nicht anmerkt. Da täuschen sich viele Züchter. Würde man den Cortisol-Gehalt im Blut messen, gäbe es manche Überraschung! Danach folgen in der Regel lange Fahrten zu einem fremden Deckpartner, dem die Hündin mehr oder weniger stark ausgeliefert wird. Hier übernehmen Züchter ein hohes Maß an Verantwortung für das spätere Verhalten und damit für das Schicksal ihrer gezüchteten Hunde. Traumatische Erlebnisse in jeder Form prägen sich – über den emotionalen Stress (Hormone) beim Deckakt in die befruchteten Keimzellen ein.
Klar auf der Hand liegt ebenfalls, dass eine trächtige Hündin besondere Fürsorge und Pflege bedarf. Liebevolle Haltungsbedingungen, ein harmonisches familiäres Umfeld sorgen für ein Gefühl der Geborgenheit. Epigenetische Forschungsarbeiten speziell zu diesem Thema zeigen, dass der Grad der erfahrenen Fürsorge der Mutter eine direkte Auswirkung auf die biologischen Entwicklungsprozesse der heranwachsenden Föten hat. Hervorzuheben sind hier die Phasen der Organentwicklung. Gesunde, leistungsstarke Organe sind die Grundvoraussetzung für Vitalität, Fitness und Langlebigkeit. Eine positive, hormonelle Stimulation (Oxytocin) verbessert nachweislich Gedächtnisfunktionen, stärkt Abwehrkräfte und Nervensystem.
Ein weiterer, nach wie vor von Züchtern und Haltern oft vernachlässigter Faktor in eine gesunde, natürliche Ernährung der Hunde und ihrer Nachkommen. Ein markantes Beispiel hierzu führen uns die Bienen vor. Erhält eine Larve, die sich zunächst nicht von anderen Larven unterscheidet, einen hochkonzentrierten Futtersaft (Gelee Royal), wird sie als zukünftige Königin des Bienenvolkes heranwachsen. Auch hier schaltet die Ernährung durch temporäre Modifikationen im Erbgut, die sogenannte DNA-Methylierung, die Transkription bestimmter Gene an oder aus. Die Epigenetik misst daher der Fütterung von sich entwickelndem Leben herausragende Bedeutung zu, wie es bereits das Beispiel mit den Labormäusen gezeigt hat.
Eine Sonderstellung in der gesamten Ernährungsthematik nehmen die natürlichen Farbstoffe (Pigmente) ein. Die Betonung liegt auf „natürlich“, im Gegensatz zu „synthetisch“. Natürliches Hundefutter unterscheidet sind grundlegend von Fertigfutter, weil seine Bestandteile frisch zuführt werden. Das können Carotinoide aus Möhren, Rote Beete oder Eidotter sein; oder Chlorophyll (Algen), das mit seinem grünen Pigment einen gesunden Zellstoffwechsel fördert. Gemüse, Obst und Kräuter liefern zusätzlich frische Vitamine. Natürliche „Lebensmittel“ sorgen für einen stabilen Hormonhaushalt, der wiederum Drüsen und Organe leistungsstark erhält. Das kann kein Industriefutter leisten, im Gegenteil, die zugesetzten künstlichen Ersatzstoffe, Aromen und Konservierungen können die Aktivität der Gene negativ beeinflussen, wie bereits im Vorfeld beschrieben.
Nach wie vor werden Mutterhündin und Welpen in der Mehrzahl mit industriell hergestelltem Futter versorgt. Hier besteht der vielleicht größte Bedarf an Aufklärung. Da hat die Futtermittelindustrie ganze Arbeit geleistet, indem sie Werbung mit „Pedigree“ &Co in großem Stil im Zusammenhang mit properen Welpen in den Medien verbreitet hat. Ein todsicheres Geschäft, aber ganz sicher kein Gewinn für die Hundezucht.
Weitere Faktoren, die sich negativ auf epigenetische Abläufe auswirken:
- Inzucht – Linienzucht, damit sich erwünschte Merkmale schnell manifestieren. Proportional zum Ahnenverlust steigt das Risiko, dass sich unerwünschte (autosomal-rezessive) Gene verdoppeln und dominant in Erscheinung treten. Gene müssen heterozygot, also mischerbig vorhanden sein, damit sie flexibel auf Umwelteinflüsse reagieren können
- Zuchtprogramme, die einseitig auf sichtbare Merkmale (Show) ausgerichtet sind mit gleichzeitiger Vernachlässigung gesundheitlicher Qualitätssicherung
- Mangelnde Bereitschaft der Zuchtverantwortlichen und Züchter Träger von Defektgenen konsequent nach den neuesten, wissenschaftlichen Erkenntnissen zu dokumentieren und z.B. nur mit gesunden Tieren zu verpaaren, bzw. die Daten einer Zuchtwertschätzung zuzuführen, damit nicht noch mehr verwandte Tiere an derselben Erbkrankheit leiden müssen
- Geschlossene Zuchtgruppen = immer kleiner werdender Genpool der Rasse
Schlussbemerkung: Heute in unserer post-modernen, liberalen Zeit, wo alles Natürliche der Ökonomie unterworfen wird, ist es von großer Dringlichkeit Züchter darüber aufzuklären, dass Hundewelpen in einem harmonischen Umfeld gezeugt, geboren und aufwachsen müssen, damit sie gesund bleiben. Anthroposophische Hundezucht stellt die Unversehrtheit (Gesundheit), das Wohlbefinden (Haltung), das Wesen (Seele) der Hunde als züchterische Basis in den Vordergrund. In der konventionellen Zucht wird auf diese Qualitäten immer weniger Rücksicht genommen. Obwohl man es besser wissen sollte, herrscht in sehr vielen Zuchtstätten gnadenlose Einsichtslosigkeit. Da werden Hunde zum Selbstzweck zurechtgeformt und genetisch verstümmelt. Selbst das (noch) gesunde Erbgut kann nicht zum Tragen kommen, weil Zuchtprogramme und Management es verhindern oder weil die Hunde unsachgemäß, lieblos und unter Dauerstress gehalten werden. Jeder Züchter möge bedenken: Was aus den Welpen an Mutters Milchbar später wird, entscheiden nicht nur die Gene der Eltern, sondern darüber hinaus generations-übergreifende epigenetische Effekte.
Copyright by Marion Sihler | Text by Karin Jetter | Institut für ganzheitliche Hundezucht